„Schule als Sozialraum im Sozialraum„

Interview mit Vertr.-Prof. Dr. Matthias Forell

 

Beim 7. Spitzengespräch zum Kommunalen Bildungsmanagement im Land Brandenburg unter dem Titel „Gemeinsam aus der Bildungskrise“ sind Landrät*innen, Dezernent*innen, Amtsleitungen und Vertreter*innen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Ministeriums Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg zu aktuellen Herausforderungen und Veränderungspotenzialen im Bildungssystem ins Gespräch gegangen.  

Dr. Matthias Forell vertritt die Professur für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schulentwicklung am Institut für Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Sein Vortrag im Rahmen des Spitzengesprächs setzte sich unter anderem mit sozialräumlichen Herausforderungen und ressourcenorientierten Perspektiven in der Schulentwicklung auseinander. Ein Fokus lag dabei auf der Nutzung von kleinräumigen Sozialraumdaten in Form von Kartendarstellungen. Im BMBF geförderten Programm „Schule macht stark“ koordiniert Dr. Forell das Cluster „Außerunterrichtliches Lernen und Sozialraumorientierung (ALSO)“ und erarbeitet gemeinsam mit Schulen Module zur standortspezifischen Schul- und Unterrichtsentwicklung, die auch von Kommunen als Instrumente zur Weiterentwicklung der Schulentwicklungsplanung genutzt werden können.  

Welche Chancen bietet eine sozialräumlich orientierte Schulentwicklung im Sinne einer Analyse des schulischen Sozialraums mit Hilfe der Darstellung soziodemografischer Daten als Karte? 

Die Voraussetzungen für Bildungserfolg unterscheiden sich nicht nur nach den sozialen und individuellen Eingangsvoraussetzungen von Schüler*innen, sondern auch – teilweise deutlich – je nach Schulstandort. So weisen Schulen in herausfordernden Lagen tendenziell eine niedrigere Schulqualität auf, die sich oft in einer schlechteren personellen, materiellen und räumlichen Ressourcenausstattung zeigt. Das bedeutet, dass ohnehin schon benachteiligte Schüler*innen an diesen Schulen ungünstigere Lernbedingungen vorfinden, indem sie u.a. von mehr Unterrichtsausfall oder fachfremdem Unterricht betroffen sind.  

Dementsprechend kann mit einer Schulentwicklungsplanung auf Basis kleinräumiger, sozialdemografischer Daten ein erhöhter Ressourceneinsatz erfolgen. Wichtig ist aus meiner Sicht hierbei, dass Ungleiches auch ungleich behandelt wird, also die Ressourcenverteilung auch an die tatsächlichen Bedarfe der Einzelschule angepasst wird und nicht nur ‚kosmetischer‘ Natur ist. So bestünde auch die Möglichkeit, nicht nur die Defizite von Schüler*innen verstärkt anzugehen, sondern Ungleichheiten auch mit dem Fokus auf deren Stärken und Potenziale auszugleichen.  

Außerdem bietet solches Kartenmaterial die Möglichkeit, verschiedene sozialdemografische Einzelindikatoren wie sozioökonomische, bildungs- oder migrationsbezogene Faktoren abzubilden. Es berücksichtigt auch multivariate Betrachtungen in Form von Benachteiligungsindizes. Diese Indizes ermöglichen die Chance einer kontextsensiblen Einzelschulentwicklung. Die Entwicklung ist geprägt durch einen ko-konstruktiven Austausch der unterschiedlichen schulischen Akteur*innen, der zu einer Erhöhung der Habitussensibilität führen kann. Zusätzlich bieten sich Möglichkeiten der Reflexion über gesellschaftlich geprägte und gegebenenfalls schulkulturell verfestigte Stereotype. Immerhin ist es nur selten der Fall, dass z.B. Lehrkräfte an Schulen in herausfordernden Lagen im Sozialraum des Schulstandorts wohnen oder vergleichbare soziale Hintergründe aufweisen bzw. aus ähnlichen Milieus stammen wie ihre Schüler*innen. 

Neben der soziodemografischen Zusammensetzung des schulischen Sozialraums, können Ressourcen eines Sozialraums auch mit anderen Mitteln erfasst werden.  Wie können Schulen weitere sozialräumliche Aspekte für ihre Schulentwicklung erfassen? 

Hierbei ist aus meiner Sicht entscheidend, dass neben der objektiven bzw. objektivierten Perspektive auf den schulischen Sozialraum, wie wir sie mit dem oben angesprochenen Kartenmaterial darstellen, auch ein subjektiver Blick aus den Augen der vor Ort handelnden Akteur*innen eingebunden wird. Wir hören in unserer Zusammenarbeit mit den Schulen von den Lehrkräften oder dem weiteren pädagogisch tätigen Personal oft, dass die Sozialraumdaten ihr Bauchgefühl bestätigen. Sie bringen dadurch aber ein anderes Verständnis für die soziale Situation ihrer Schüler*innen auf und gehen auch anders mit ihnen um. Sie sind nachsichtiger und bieten Unterstützung an, die ihnen vorher so nicht in den Sinn gekommen wäre.  

Einen wichtigen Beitrag kann zudem die Einbeziehung der Schüler*innenwahrnehmung leisten. Digitalgestützte Sozialraumerkundungsinstrumente ermöglichen bspw. die aktive Partizipation von Schüler*innen zur Mitgestaltung des schulischen Sozialraums. Mithilfe von Apps können sie unter bestimmten – für den jeweiligen Schulstandort sozialräumlich relevanten – Fragestellungen ihre Perspektiven z.B. auf das Schulgebäude, den Schulhof oder auch den Schulweg erfassen, um so die erwachsenen schulischen Akteur*innen für ihre Wahrnehmung zu sensibilisieren. Wir stellen u.a. fest, dass dies nicht nur auf die Selbstwirksamkeit der Schüler*innen einzahlt. Auch die Identifikation mit der Schule wird gestärkt und kann zu einer integrativen Schulgemeinde beitragen, in der die Perspektiven aller schulischen Akteur*innen anerkannt werden. 

Welche Gelingensbedingungen sehen Sie in der Umsetzung einer Sozialraumorientierung in der Schulentwicklung?

Dazu bedarf es zunächst eines differenzierten Verständnisses der Schule als Sozialraum im Sozialraum. Den schulischen Sozialraum nur als Nahbereich mit (nicht) vorhandenen Netzwerkstrukturen zu verstehen, wäre für sozialraumorientierte Schulentwicklungsprozesse nicht zielführend. Wir haben in unserer Zusammenarbeit mit den Schulen drei Verständnisformen des schulischen Sozialraums herausgearbeitet. Diese berücksichtigen sowohl physisch-materielle – also u.a. bauliche Gegebenheiten der Einzelschule und die infrastrukturellen Angebote am Schulstandort – sozialdemografische – die oben bereits angesprochenen milieuspezifische Herkunftsmerkmale der Schüler*innen und deren Eltern – als auch handlungsbezogene Aspekte, die sich auf die Interaktionsgeflechte vor allem innerhalb der Einzelschule, aber z.B. auch mit außerschulischen Kooperationspartner*innen beziehen.  

Für wichtig halte ich in diesem Zusammenhang auch eine gemeinsame Wissensbasis der handelnden schulischen Akteur*innen auf der einen und eine gemeinsam getragene Schulkultur mit geteilter Vision auf der anderen Seite. Dabei schließe ich explizit alle Berufsgruppen ein und meine nicht nur innerhalb des Lehrer*innenkollegiums. Nicht zuletzt sollte diese von einem ressourcenorientierten Fokus auf die Stärken und Potenziale der Schüler*innenschaft sowie der vorhandenen Angebote im Einzugsbereich der Schule geprägt sein. 

Welche Anknüpfungspunkte für Kommunen sehen Sie? Welche Rolle könnten das kommunale Bildungsmanagement und das kommunale Bildungsmonitoring aus Ihrer Sicht einnehmen? 

Hier sehe ich vor allem die eingangs bereits angesprochene Schulentwicklungsplanung, die natürlich maßgeblich durch die Kommune bzw. das kommunale Bildungsmanagement gesteuert wird. Aus unserer Zusammenarbeit mit den Schulen wissen wir, dass ihnen dabei neben der Berücksichtigung ihrer schulpraktischen Perspektive auch eine offene Kommunikation sehr wichtig ist. Das oben beschriebene sozialdemografische Kartenmaterial kann dabei unterstützen, mehr Transparenz und Verständnis zu erzeugen.  

Das kommunale Bildungsmanagement kann darüber hinaus auch als Multiplikator fungieren bspw. um sozialraumorientierte Angebote passgenau und flächendeckend zu implementieren sowie diese auch zu evaluieren und schließlich weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund möchte ich zum Abschluss noch zu datengestützter Schulentwicklung(splanung) ermutigen, die Anreize zur Verbesserung der Datenkultur und -qualität schafft. Damit meine ich nicht nur die Verschränkung relevanter Daten unterschiedlicher Abteilungen, sondern auch die Nutzung kleinräumiger Sozialraumdaten, die unterhalb der Kreis- oder Gemeindeebene liegen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine Aufbereitung solcher Daten, z.B. auf Stadteilebene oder sogar noch engmaschiger, einen großen Mehrwert für die Einzelschulen, aber auch für die jeweiligen Kommunen hat.