Eine Handvoll Fragen an Issam Kanjo zur Arbeit und Wirkung von Migrant*innenorganisationen
Zu selten werden migrantische Perspektiven in bildungspolitischen Debatten berücksichtigt. Migrant*innenorganisationen tragen entscheidend dazu bei, darzulegen, was es für eine gelungene Teilhabe von Menschen mit Migrationserfahrung im Bildungsbereich braucht. So spielen unter anderem „Brückenpersonen“ und Diversitätssensibilität eine wichtige Rolle zur Verbesserung der Teilhabechancen.
Welche Empfehlungen genau er für eine bessere Berücksichtigung der migrantischen Perspektiven hat, erfahren Sie in diesem Kurzinterview mit Issam Kanjo, Leiter des Projektes „Empowerment und Partizipation von Migrant*innenorganisationen in Brandenburg“ (EmPaBB) beim Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst).
In seiner Rolle stärkt er die Migrant*innenorganisationen in Brandenburg, damit diese Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung vor Ort besser unterstützen können.
Kommunen
stärken
Impulse
geben
Vernetzung
fördern
1. Sie arbeiten beim DaMOst und leiten dort das Projekt EmPaBB. Was kennzeichnet Ihre Arbeit in dem Projekt?
Das Projekt „Empowerment und Partizipation von Migrant*innenorganisationen in Brandenburg“ (EmPaBB) verfolgt das Ziel, Migrant*innenorganisationen als gleichberechtigte Akteur*innen in der kommunalen Arbeit zu etablieren. Im Zentrum unserer Arbeit stehen vier miteinander verbundene Säulen. Zum einen geht es um Empowerment und Kompetenzstärkung: Wir unterstützen Migrant*innenorganisationen durch Schulungen, Beratung und Wissensvermittlung, etwa zu administrativen, rechtlichen oder strategischen Fragen der Vereinsentwicklung. Dazu gehört auch die Begleitung bei Vereinsgründungen. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist die strukturelle Verankerung: Wir setzen uns dafür ein, dass das Forum der Migrant*innenorganisationen in Brandenburg e.V. (FoMiB e.V.) als Community übergreifender Verband der feste Ansprechpartner für Brandenburg wird. Außerdem engagieren wir uns dafür, dass es in Kommunen feste Ansprechpersonen gibt, verlässliche Ressourcen bereitgestellt werden und Migrant*innenorganisationen institutionalisierte Beteiligungsrechte erhalten. Ebenso wichtig ist der Netzwerkaufbau: Wir schaffen Räume der Begegnung zwischen Politik, Kommunen, Zivilgesellschaft und Migrant*innenorganisationen, um Kooperation und gegenseitiges Lernen zu fördern, und um Isolation oder Parallelstrukturen zu vermeiden.
Schließlich spielen auch die Interessenvertretung und Öffentlichkeitsarbeit eine zentrale Rolle. Wir machen migrantische Perspektiven sichtbar, vertreten ihre Anliegen nach innen und außen und organisieren öffentliche Veranstaltungen, Fachtage und Workshops. Unser übergeordnetes Ziel ist es, dass migrantische Perspektiven nicht nur angehört, sondern verbindlich, inklusiv und auf Augenhöhe in politische und bildungspolitische Entscheidungen einfließen.
2. Sie sind 2015 nach Deutschland gekommen und sind Neuzugewanderter der 1. Generation. Welche Rolle spielt Ihre eigene Migrationserfahrung für Ihre Arbeit?
Als ich selbst nach Ostdeutschland kam, gab es kaum offizielle Unterstützungsangebote. Vieles beruhte auf dem Engagement Einzelner, meist Ehrenamtlicher, die mit großem Einsatz, aber geringen Ressourcen arbeiteten. Besonders gefehlt haben damals, also um 2015, mehrsprachige Beratungsstellen und klare Strukturen für Erstorientierung.
Diese Erfahrung prägt meine Arbeit bis heute. Ich habe gelernt, dass Neuzugewanderte der ersten Generation vor allem drei Dinge brauchen:
- Niedrigschwellige, mehrsprachige Informationen und Beratung zu zentralen Themen wie Bildung, Wohnen, Arbeit und Aufenthalt.
- Transparente Verfahren zur Anerkennung ihrer Qualifikationen und eine verbindliche Begleitung beim Einstieg in Ausbildung, Studium oder Arbeitsmarkt.
- Den Zugang zu Communities, die Orientierung und Zugehörigkeit bieten.

Echtes Empowerment entsteht nicht durch einseitige Integrationsforderungen, sondern durch Mitgestaltung. Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich selbstbestimmt einzubringen, erst dann wird Teilhabe wirklich gelebt.
3. Wie betrachten Sie die Situation der 2. Generation Neuzugewanderter in Brandenburg und welche Voraussetzungen brauchen diese für gute Bildungschancen?
Viele junge Menschen der zweiten Generation sind in Deutschland aufgewachsen, sprechen fließend Deutsch und fühlen sich hier zu Hause. Trotzdem stoßen sie oft auf strukturelle Barrieren. Diskriminierung im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt ist keine Ausnahme. Hinzu kommen eingeschränkte Zugänge zu fördernden Netzwerken und Ressourcen.
Viele erleben zudem ein Zugehörigkeitsdilemma: In Deutschland werden sie aufgrund ihrer Herkunft nicht immer als gleichwertig akzeptiert, während sie sich im Herkunftsland ihrer Eltern aufgrund sprachlicher oder kultureller Unterschiede oft ebenfalls fremd fühlen; sie sind sprichwörtlich „zwischen den Stühlen“. Verstärkt wird dies durch ungleiche Lebensverhältnisse, etwa durch Segregation in bestimmten Stadtteilen, die die Bildungschancen weiter einschränkt. Außerdem verstärken die politischen Hassdebatten gegen Menschen mit Migrationsgeschichte das Gefühl, dass sie nicht zu Deutschland gehören.
Was es braucht, sind inklusive Schulen mit diversitätssensiblen Lehrkräften, individuelle Förderung, die Anerkennung von Mehrsprachigkeit als Ressource und nicht als Defizit, sowie eine aktive Einbeziehung von Eltern und Migrant*innenorganisationen in Bildungsprozesse. Besonders wichtig sind auch sichtbare Vorbilder aus migrantischen Communities, die zeigen, dass Erfolg und Teilhabe möglich sind.
4. Warum sind „Brückenpersonen“ aus den migrantischen Communities sowie Migrant*innenorganisationen und Netzwerke so wichtig?

Brückenpersonen und Migrant*innenorganisationen sind das verbindende Element zwischen Politik, Verwaltung, Bildungseinrichtungen und Communities. Sie übersetzen nicht nur Sprachen, sondern auch Lebenswelten. Sie schaffen Vertrauen, wo Misstrauen herrscht, ermöglichen eine barrierefreie und mehrsprachige Kommunikation und erkennen Bedarfe frühzeitig – oft, weil sie ähnliche Erfahrungen selbst gemacht haben.
Darüber hinaus fördern sie gegenseitiges Verständnis: Sie helfen Verwaltungen und Politik, die Perspektiven der Communities besser nachzuvollziehen, und tragen gleichzeitig dazu bei, dass migrantische Gruppen Verwaltungsprozesse besser verstehen. Wenn Integration als wechselseitiger Prozess verstanden wird, entsteht echte Mitgestaltung statt Anpassungsdruck.
5. Was können Kommunen konkret tun, um Teilhabe nachhaltig zu fördern?
Kommunen haben eine Schlüsselrolle, wenn es um gelingende Teilhabe geht. Sie können entscheidend dazu beitragen, dass Migrant*innenorganisationen ihre wichtige Arbeit nachhaltig leisten können. Dazu gehört, Migrant*innenorganisationen strukturell zu fördern, mit dauerhafter Finanzierung, Personalstellen und unabhängigen Ressourcen. Wichtig ist auch, verbindliche Beteiligungsformate zu schaffen, etwa Beiräte mit Rede-, Antrags- und Mitentscheidungsrecht.
Ebenso notwendig sind Fortbildungen für Verwaltungsmitarbeitende zu Themen wie Rassismus, Antidiskriminierung und inklusiver Kommunikation. Migrant*innenorganisationen sollten von Beginn an in Planungs- und Umsetzungsprozesse eingebunden werden, nicht erst zur Abnahme fertiger Konzepte. Auch die Anerkennung als Bildungspartner*in und die Einrichtung unabhängiger kommunaler Beschwerdestellen sind zentrale Schritte.
Letztlich braucht es aber vor allem einen Kulturwandel: weg von Integrationsforderungen hin zu echter Mitgestaltung. Teilhabe ist kein Geschenk; sie ist ein Recht. Migrant*innenorganisationen sind keine Randakteur*innen, sondern unverzichtbare Kompetenzzentren für Vielfalt, Teilhabe und soziale Innovation. Eine zukunftsorientierte Bildungslandschaft in Brandenburg ist ohne ihre Expertise schlicht nicht denkbar.