Eine Handvoll Fragen an Prof. Edgar Grande zu Sicherheit(en) in turbulenten Zeiten und den Herausforderungen für die Bildung
Damit Menschen den Wandel von post-industrieller „Risikogesellschaft“ hin zur „Chancengesellschaft“ meistern können, bedarf es Bildung, erklärt Prof. Edgar Grande, Gründer des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am WZB Berlin, in unserem Kurzinterview.
Die Bildungspolitik muss Vertrauen bei den Bürger*innen aufbauen anhand eines glaubwürdigen Bildungsversprechens und damit die Grundlage für individuelle Selbstbefähigung schaffen. Die derzeitigen Unsicherheiten lassen sich damit überwinden, brauchen aber Anstrengungen von allen Seiten. Was die Zivilgesellschaft leistet und die kommunale Bildung leisten kann, erklärt Prof. Edgar Grande im Gespräch mit uns.
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Kommunen
stärken
Impulse
geben
Vernetzung
fördern
Wir leben in einem Zeitalter von Unsicherheiten. Was bedeutet das mit Blick auf die Bildung?
Das Grundproblem, vor dem unsere Gesellschaft derzeit steht, lautet: Wie kann in einer aus den Fugen geratenen Welt Sicherheit geschaffen und Zusammenhalt gesichert werden? Meine Antwort lautet: durch Bildung. Bildung ist meines Erachtens die entscheidende Voraussetzung dafür, wie die Menschen die durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse erzeugten Veränderungen – all die Brüche, Diskontinuitäten und Krisen – erfahren und bewerten, ob die mit offenen Grenzen verbundene Mobilität, die größere kulturelle Diversität und die größeren individuellen Wahlmöglichkeiten von den Menschen als Bereicherung und Gewinn an Lebenschancen wahrgenommen werden – oder als Zwang, als Zumutung, als Bedrohung und als Verlust. Kurz gesagt: Ob die post-industrielle „Risikogesellschaft“ für sie in einem positiven Sinn zur „Chancengesellschaft“ wird.
Folglich ist die Bildungspolitik der wichtigste Hebel, wenn man unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie stärken will. Denn in einer so unsicheren Zeit kann individuelle Sicherheit nicht mehr wie in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts über die kompensatorischen Politiken der sozialen Sicherungssysteme hergestellt werden. In der post-industriellen „Risikogesellschaft“ müssen die Menschen dazu befähigt werden, dass sie kompetent und selbstbewusst mit wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen Veränderungen umgehen können. Sie müssen in ihrem Gefühl gestärkt werden, dass sie trotz aller Unsicherheiten die Kontrolle über die eigenen Handlungen und deren Folgen nicht völlig verloren haben.
Ihr Plädoyer ist es, den Bürger*innen ein glaubwürdiges Bildungsversprechen zu geben. Was verstehen Sie darunter?

Wenn ich hier von Bildung spreche, dann geht es nicht nur um formelle Kompetenzen, Qualifikationen und formale Bildungsabschlüsse. Es geht um die individuelle Befähigung in einem umfassenden Sinn. Nur durch die gezielte Förderung ihrer Fähigkeiten in allen Lebensphasen kann den Menschen – jungen und alten – die Sicherheit gegeben werden, dass sie die Herausforderungen einer offenen und innovativen Gesellschaft meistern können. Das verlangt von den Menschen ein hohes Maß an Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Und dieses institutionelle Vertrauen kann nicht vorausgesetzt werden, es muss geschaffen werden.
Die Bildungspolitik kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Sie kann die Quelle von Sicherheit sein – und von Verunsicherung. Deshalb kommt es meines Erachtens ganz entscheidend darauf an, dass die Bildungspolitik gerade in turbulenten Zeiten wie diesen ein glaubwürdiges Bildungsversprechen abgibt. Mehr noch als alle Einzelmaßnahmen zählt für die Bürger*innen das Versprechen: Was immer auch kommt, wir werden dich fördern und unterstützen! – You‘ll never walk alone!
Sie sehen Bildungschancen als Lebenschancen. Sie legen dabei großen Wert auf Selbstwirksamkeit. Welche Rolle kommt zukünftig der Zivilgesellschaft zu?
Der Begriff der „Lebenschancen“ ist ein Schlüsselbegriff des Soziologen Ralf Dahrendorf. „Lebenschancen“ sind für ihn „Möglichkeiten des individuellen Wachstums, der Realisierung von Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen, und diese Möglichkeiten werden durch soziale Bedingungen bereitgestellt“. Die entscheidende Frage ist dann, durch welche sozialen Bedingungen konkret diese Möglichkeiten geschaffen und vergrößert werden. Hier kommt nun wieder Bildung ins Spiel – und das in einem neuen, umfassenden Sinn. Wir müssen Bildung neu denken und das Bildungsverständnis in mehrfacher Hinsicht erweitern. In der post-industriellen „Risikogesellschaft“ kann Bildung nicht auf den Kompetenzerwerb in einem bestimmten Lebensabschnitt begrenzt bleiben. Sie muss sich über die gesamte Bildungskette von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung erstrecken. Kurz gesagt: Es geht nicht nur um „Startchancen“, so wichtig diese sind, es geht um „die beste Bildung ein Leben lang“, wie die „Ampel-Regierung“ das in ihrem Koalitionsvertrag zutreffend formulierte.
Das wirft natürlich die Frage auf: Wer soll das alles leisten? Die bestehenden Bildungseinrichtungen in Deutschland sind bekanntlich bereits jetzt überfordert: finanziell, personell, infrastrukturell und konzeptionell. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage, welche Rolle das freiwillige Engagement der Bürger*innen im Bildungswesen spielen könnte, eine besondere Bedeutung zu. Für die Diskussionslage in Deutschland ist bezeichnend, dass diese Frage in der bildungspolitischen Diskussion noch nicht einmal gestellt wird.
„In den kommenden Jahren wird es entscheidend darauf ankommen, dieses Engagementpotenzial der Zivilgesellschaft zu aktivieren und zu nutzen!“
Prof. Edgar Grande

Das steht in einem auffälligen Gegensatz zur Realität in deutschen Bildungslandschaften. Die Ergebnisse eines gerade eben abgeschlossenen Forschungsprojekts am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin zeigen, dass die Zivilgesellschaft bereits jetzt einen erheblichen Beitrag in unserem Bildungssystem leistet. Der wird viel zu wenig beachtet und anerkannt. Der Anteil der Engagierten in den Bereichen der schulischen und außerschulischen Bildung hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Es gibt in der Zivilgesellschaft noch ein großes ungenutztes Engagementpotenzial für Aktivitäten im Bildungsbereich. In den kommenden Jahren wird es entscheidend darauf ankommen, dieses Engagementpotenzial der Zivilgesellschaft zu aktivieren und zu nutzen!
Sie sprechen sich dafür aus, einen systematischen Prozess des gemeinsamen Lernens zu entwickeln. Wie können wir die kommunale Bildung zum Lernfeld in unserem Bildungssystem machen?
Zunächst: Wir müssen den Blick in der Bildungspolitik nach unten richten! Der Schlüssel für die dringend notwendige Reform des Bildungssystems liegt nicht oben, beim Bund und den Ländern, sondern unten, bei den Kommunen. Die zahlreichen Schul- und Bildungsprojekte der vergangenen Jahrzehnte zeigen, dass die vor Ort vorhandenen Möglichkeiten für Veränderungen trotz des vielfach beklagten „Bürokratiemonsters“ Schule bereits jetzt ganz erheblich sind. Wir müssen also nicht auf die „große Bildungsreform“ warten, so notwendig diese wäre. Wir müssen die vorhandenen Spielräume für Veränderungen auf der lokalen Ebene schon jetzt nutzen und die kommunalen Bildungslandschaften zu Experimentierfeldern für eine Neugestaltung des Bildungswesens machen. Das heißt nicht, dass die Schüler*innen nun zu „Versuchskaninchen“ einer überambitionierten Bildungspolitik gemacht werden und die oft beklagte „Projektitis“ den Schulalltag beherrscht. Wenn ich von Experimentieren spreche, dann meine ich vor allem, dass es für die Ausgestaltung der neuen kommunalen Bildungslandschaften derzeit keine Blaupause gibt und wohl auch nicht geben kann. Dazu sind die örtlichen Bedingungen – die am Ort vorhandenen Bildungseinrichtungen, die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen, die lokalen Engagementkulturen und die Wirtschaftsstrukturen, um nur einige der wichtigsten Faktoren zu nennen – viel zu unterschiedlich. Jede Kommune kann – und muss – ihren eigenen Weg finden.
Diese große Vielfalt ist Chance und Herausforderung zugleich. Die lokalen Bildungsexperimente sind immer der Gefahr der Kurzatmigkeit und Kurzlebigkeit ausgesetzt. Damit erfolgreiche lokale Experimente nicht wirkungslos verpuffen, müssen aus meiner Sicht mehrere Bedingungen gegeben sein: die Vernetzung von Akteur*innen sowohl am Ort als auch überörtlich, der gegenseitige Austausch und das gemeinsame Lernen sowie die (personelle und finanzielle) Nachhaltigkeit von Projekten. Das Ziel muss es sein, eine nachhaltige Reformbewegung zu initiieren, die gemeinsam „von unten“ einen Lernprozess auslöst und vorantreibt, der zu einer dauerhaften Umgestaltung des deutschen Bildungswesens führt.